Interview zum Welt-Adipositas-Tag
Aktuelles und Pressemitteilungen | 04.03.2024
Unter Adipositas versteht man ein starkes Übergewicht durch Zunahme des Körperfettes. In den Industrieländern nimmt diese Krankheit, aber auch ihre Vorstufe, das Übergewicht, immer mehr zu. In Deutschland sind laut der Adipositas Gesellschaft ca. ein Viertel der Erwachsenen stark übergewichtig (adipös; BMI ≥30 kg/m2), das sind 23 % der Männer und 24 % der Frauen und die Zahlen an Adipositaserkankten nimmt weiter zu.
Frau Schreiber, Sie leiden schon Ihr lebenslang unter Adipositas. Wie gehen Sie mit der Erkrankung um und wie bewerten Sie die öffentliche Wahrnehmung?
Ab meinem 7. Lebensjahr habe ich angefangen übergewichtig, also adipös zu werden. Dadurch habe ich schon als Kind sehr leidvolle Erfahrungen durch Mobbing und Stigmatisierung gemacht, von Mitschülern, Lehrern, Ärzten und in der eigenen Familie. Dazu kamen dann irgendwann noch Depressionen. Die Scham über mein Dicksein war sehr groß und mir wurde ja auch von allen Seiten gesagt, dass ich ja selbst schuld wäre, da ich ja einfach nur weniger essen müsste.
Es folgten unzählige Diät-Versuche. Das Abnehmen war meistens noch relativ einfach, aber am Halten des erreichten Gewichtes ist es dann immer wieder gescheitert, bis es sich auf 200 kg hochgeschaukelt hat. Selbsthass und Suizidgedanken bestimmten meine Gedanken. Verständnis erlebte ich in meinem Umfeld kaum. Ich würde heute sagen, dass die Selbststigmatisierung genauso schlimm war wie die öffentliche Stigmatisierung. Wobei gerade adipöse Menschen in der Öffentlichkeit auch heute noch, oft sehr direkt angegangen und beleidigt werden, da unsere Schwäche ja so offensichtlich ist.
Warum ist eine Selbsthilfegruppe wichtig?
2010 besuchte ich zum ersten Mal sehr ängstlich und aufgeregt die Selbsthilfegruppe in Heppenheim. Ich lernte neue Menschen kennen, habe echte Freundschaften gefunden und hatte endlich das Gefühl, akzeptiert zu werden so wie ich bin! Es war eine große Erleichterung zu erleben, dass ich nicht alleine war mit meinen Problemen. Grundsätzlich ist das Ziel der Gruppe, einen Informations- und Erfahrungsaustausch von Betroffenen für Betroffene und deren Angehörige, der direkte Austausch von praktischer Lebenshilfe sowie die gegenseitige emotionale Unterstützung und Motivation zu ermöglichen.
Wann und warum haben Sie sich für eine Operation entschieden?
Für die Entscheidung zu einem Schlauchmagen habe ich fast 20 Jahre gebraucht, da mir klar war, dass mein Kopf nicht operiert wird… Die Begleiterkrankungen wie Diabetes, Arthrose, Achillessehnen-Reizungen, Rheuma etc. waren so gravierend, dass ich nicht mehr arbeiten gehen konnte. Ich musste jedoch erst die psychische Stabilität, ein gutes soziales Netzwerk und der Rückhalt durch die Gruppe haben, um den Schritt zur Operation gehen zu können.
Wie hat sich die Operation auf Ihre Krankheit und Ihr Leben ausgewirkt?
Innerhalb kürzester Zeit hat sich mein Diabetes so verbessert, dass ich keine Medikamente mehr brauchte. Die Gelenkbeschwerden sind so minimal, dass ich auch fast keine Schmerzmittel mehr benötige. Mit heute 75 kg weniger, hat sich mein Gesundheitszustand allgemein um ein Vielfaches gebessert, so dass ich heute ein (fast) normales Leben führen kann. Dank der Selbsthilfegruppe kann ich heute offensiv mit der Erkrankung umgehen, da ich weiß, dass es eine Krankheit ist und nicht meine Schuld. Ich habe weitestgehend Frieden mit mir und meinem Körper geschlossen und hoffe, auch mit der Krankheit noch ein langes zufriedenes Leben führen zu können. Ich lebe nicht mehr alleine, sondern seit 4 Jahren in einer Partnerschaft, kann in jedes Café gehen ohne Angst zu haben, nicht in den Stuhl zu passen, und ich brauche beim Fliegen keine 2 Sitzplätze mehr.
Herr Prof. Knebel, Sie leiten als Chefarzt die Chirurgie am Kreiskrankenhaus Bergstraße und operieren hier Menschen, die unter Adipositas leiden. Was genau ist Adipositas?
Medizinisch verstehen wir Adipositas als krankhaftes Übergewicht, das ab einem BMI von 30 ansetzt. Seit einigen Jahren steht bei der Erkrankung aber nicht mehr nur der BMI im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Begleiterkankungen und Folgeschäden, die sich aus dem starken Übergewicht ergeben. Zum Beispiel die insulinbedürftige Blutzuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ 2), kardiovaskuläre Erkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt oder Bluthochdruck sowie ein stark beschleunigter Verschleiß der Hüft- und Kniegelenke (Arthrose), Asthma und Impotenz. Wir verstehen Adipositas daher nicht mehr „nur“ als Übergewichtigkeit, sondern erfassen das starke Übergewicht mit all seinen gesundheitlichen Folgen als Ganzes.
Welche Patienten kommen zu Ihnen?
Die Patienten haben oft einen langen Leidensweg mit vielen Diäten hinter sich, bei denen sie danach noch mehr wogen als davor – der typische Jo-Jo-Effekt. Dazu kommen eine starke Stigmatisierung adipöser Menschen in unserer Gesellschaft sowie die zunehmende, oft durch das Gewicht aufgezwungene Bewegungsarmut. Daher ist ab einem bestimmten Punkt eine Operation eine Alternative und bewiesenermaßen vor allem nachhaltige Möglichkeit, eine relevante Gewichtsreduktion zu erreichen. Entgegen dem Klischee, dass es sich die Patienten mit einer OP „einfach machen“, ist es eher die letzte Option, damit man wieder ein gesünderes, aktiveres und selbstbestimmtes Leben führen kann.
Für wen ist eine Adipositas-Operation sinnvoll, für wen nicht?
Patienten mit den oben genannten Nebenerkrankungen ab einem BMI von 35, oder bei einer insulinpflichtigen Blutzuckererkrankung sogar schon ab einem BMI von 30, können eine Adipositas-Operation in Anspruch nehmen. Vor der Operation müssen alle anderen Möglichkeiten wie Ernährungsumstellung etc. erfolglos ausgeschöpft worden sein. Wir verfolgen im Adipositaszentrum am Universitätsklinikum Heidelberg in Kooperation mit dem KKB ein interdisziplinäres Modell, das in Leitlinien festgeschrieben ist. Kein Patient wird einfach operiert. Die Patienten werden von Diabetologen, Endokrinologen, Sportmedizinern und Psychologen angeschaut. Wenn alle Vorzeichen passen, kann der Patient operiert werden. Ein Gutachten oder eine vorherige Kostenzusage durch die Krankenkassen sind dann nicht mehr zwingend nötig. Für Menschen, die unter einer Essstörung oder chronischen Darmerkrankungen leiden, substanzabhängig sind oder eine Schwangerschaft planen, ist die Operation hingegen nicht geeignet.
Was passiert bei der Operation?
Es haben sich zwei Standard-Operationsverfahren weltweit etabliert. Am häufigsten angewendet werden: der Schlauchmagen oder der Magenbypass. Bei beiden wird der Magen verkleinert. Dadurch kann weniger Nahrung aufgenommen werden. Aber auch die Ausschüttung von Botenstoffen (Hormonen) im Verdauungstrakt und der Stoffwechsel wird beeinflusst und verstärkt dadurch den Effekt der Gewichtsabnahme.
Wie wirkt sich die Operation auf die Adipositas-Erkrankung aus?
Die Patienten nehmen rasch ab und – anderes als bei Diäten – halten sie ihr neues Gewicht im Durchschnitt über viele Jahre. Die Begleiterkankungen verbessern sich bereits wenige Wochen nach der OP. Das kann man deutlich bei der insulinpflichtigen Blutzuckererkrankung beobachten. Viele der operierten Patienten benötigen dann kein Insulin mehr. Wichtig ist, nach der Operation gesund zu leben und den Vitaminplan beizubehalten. Die Selbsthilfegruppen sind hierbei ein essentieller Baustein in der Therapie, sowohl vor als auch nach einer erfolgten Operation.
Adipositas Selbsthilfegruppe Bergstraße
Die Gruppe trifft sich jeden 3. Freitag im Monat ab 17:30 Uhr im Untergeschoss der Caritas (Aufzug vorhanden), Bensheimer Weg 16 in Heppenheim.
Kontakt:
Birgit Schreiber, SHG Leitung
Telefon: 06251 8603696 / 0152 55943526
Birgit.schreiber(at)adipositas-shg-bergstrasse.de
info(at)adipositas-shg-bergstrasse.de